Moor Estland Viru

Der Zauber von Lahemaa

Dichte Kiefernwälder mit bunten Moosböden, Hochmoore, Seen und Wasserfälle, kilometerlange Strände und alte Gutshäuser: Der Lahemaa-Nationalpark bietet vielfältige Natur und Kulturgeschichte.

Wir lassen die Stadt hinter uns. Fahren gut eine Autostunde von Tallinn aus Richtung Osten zur Halbinsel Käsmu. Sie ist die dritte von vier knubbeligen Landzungen, die sich kurz hintereinander in die Ostsee strecken – und allesamt im Laheema-Nationalpark liegen. Zu Deutsch: im Land der Buchten.

Im "Kapitänsdorf" Käsmu quartieren wir uns ein. Es ist Anfang September, der Hitzesommer überstanden, die Touristen sind weitgehend abgereist und die Dorfstraßen menschenleer. Buntgestrichene Holzhäuser zwischen Findlingen und Wildrosen schmiegen sich im Bogen direkt an die Ostseebucht von Käsmu. Die alte Marineschule erinnert an Zeiten, als jede Familie im Ort mindestens einen Kapitän oder Steuermann hervorbrachte. Im urigen Meeresmuseum mit seinem Sammelsurium an Erinnerungsstücken kann man die Geschichte des Dorfes und der Region erkunden. Oder man lässt sich einfach im einzigen Dorfladen ein paar Daten und Fakten erzählen. Zum Beispiel, dass Käsmu das Dorf mit den meisten Steinen und Findlingen in ganz Estland ist. Oder dass Käsmu überhaupt das schönste Dorf in ganz Estland ist. Wir glauben alles aufs Wort!

Findlinge verrücken bringt Unglück

Einige Findlinge liegen vor unserem Ferienhaus wahllos verstreut im Garten. Verrücken bringt Unglück, hören wir. Schließlich hat der riesenhafte Kalevipoeg – bärenstarker Sohn des Kalev und viel besungener Held des estnischen Nationalepos – die Brocken eigenhändig an Ort und Stelle geworfen. Also bleibt alles wie es ist. Nicht nur in Käsmu, sondern im gesamten Lahemaa Nationalpark. Er ist nicht nur der älteste Nationalpark, sondern mit mehr als 700 Quadratkilometern Fläche auch das größte Schutzgebiet in Estland.

Dichte Wälder mit bunten Moosböden so weit das Auge reicht, Hochmoore, Seen und Wasserfälle, kilometerlange Strände mit riesigen Findlingen, die von den Gletschern in der letzten Eiszeit vor mehr als 10 000 Jahren an die Küste getrieben wurden. (Wir halten freilich die Sage vom wütenden und weitwerfenden Kalevipoeg für wahrscheinlicher). Viele der Gesteinsriesen ragen mehrere Meter hoch aus dem Wasser, haben teilweise einen Umfang von 30 Metern und bieten Seevögeln den idealen Rastplatz. Nirgendwo in Europa gibt es mehr und größere Findlinge als hier.

Märchenwald, Gespenstermoos und endlose Küstenstreifen

Wir spazieren einfach von der Haustüre aus los, folgen einem der vielen Wanderwege durch den Wald, in den der Ort nahtlos übergeht. Tauchen ein in die Märchenlandschaft von dichtem Kiefernwald mit weißem „Gespenstermoos“ am Boden, hohen Farnen, Blaubeeren und Waldblumen. Tauchen dazwischen immer wieder auf, um an traumverlorenen, menschenleeren Küstenstreifen mit Blick auf die ruhige See zu landen.

1971 wurde der Laheema-Park als erstes „sowjetisches Reservat“ gegründet. Bedrohte Tierarten wie Fisch- und Seeadler sind in dem riesigen Gebiet zu beobachten, mehr als 220 Vogelarten, ebenso Elche, Luchse, Biber. Wir spazieren bis zum Abend. Begegnen dabei allenfalls einer Handvoll Menschen. Eine Frau steht tief versunken in die Landschaft, die sie auf die Leinwand vor ihr pinselt. Ein Pärchen sucht nach Pilzen – und wir blinzeln einfach in die Wolken, die zum Greifen nah über unseren Köpfen hängen.

Hochmoor Viru - Sinnesrausch voll Farben, Strukturen, Spiegelungen

Tags drauf geht´s ins Moor. Das Hochmoor Viru, wenige Kilometer von Käsmu entfernt, ist der nächste Hotspot, den wir dank der Jahreszeit fast für uns alleine haben. Genauer: den 3,5 Kilometer langen Bohlenpfad, der uns durch Farben, Formen, Strukturen, Spiegel- und Trugbilder führt, die Moorpflanzen, Seen, ehemalige Sanddünen und Heidewälder zaubern. Wir verlieren uns in Landschaft, besteigen den hölzernen Aussichtsturm und können kaum reden angesichts so viel Schönheit.

Wir bleiben in Lahemaa. Wir verlängern in Lahemaa. Wir wollen nicht mehr weg aus Lahemaa. Weil es so viel zu sehen und zu besuchen gibt: den alten Leuchtturm aus weißgetünchtem Holz an der Spitze der Nehrung in Käsmu zum Beispiel. Er wurde einst von Spenden erbaut, ist heute Mini-Museum und einer von zwei hölzernen Leuchttürmen, die in Estland erhalten geblieben sind. Ein Genuss ist auch der Sand- und Spielstrand von Võsu. Und natürlich der Ausflug ins Fischerdorf Altja. Wie ehedem stehen die alten Holzhäuser entlang der Dorfstraße. Als Freilichtmuseum kann man durch die Zimmer der rekonstruierten Bauernhöfe Uustalu und Toomarahva streifen und am Kap Altja alte Lagerschuppen für Fischernetze bewundern. Sie sehen uralt aus, wurden aber nach historischen Fotos und Erinnerungen der Dorfbewohner wieder aufgebaut. Wir wandern weiter in den Wald, folgen dem Natur- und kulturgeschichtlichen Lehrpfad von Altja bis zu den imposanten Findlingen Metsamunk und Meremuk.

Geschichte trifft Gegenwart

Die kulturgeschichtliche Vergangenheit in Lahemaa bietet noch weitere Facetten. Erinnert an die Zeit der Deutsch-Balten, die mit dem Hitler-Stalin-Pakt 1939 abrupt zu Ende war. Wir streifen zwischen den Ruinen und verlassenen Gebäuden des Gutshofes Kolga (unten). Das Herrenhaus ist gut erhalten und sieht aus, als würde jeden Moment die Türe aufgehen und die Bewohner herausschauen.

Weitere Güter deutsch-baltischer Familien wie Palmse (oben) und Vihula (unten) sind als Museum und Hotel herrschaftlich hergerichtet und nur wenige Kilometer weiter zu besichtigen. Geschichte trifft Gegenwart. Wir streifen über die Anlage des „Manor Vihula“, vorbei an der obligatorischen Mühle, dem kleinen See, ehemaligen Ställen, die heute Gästehäuser, Café oder Geschäfte für kulinarische und touristische Mitbringsel sind. Der Cousin von Eckarts Mutter hat hier als kleiner Junge gewohnt. Das Haupthaus ist heute Hotel und Restaurant. Wir lassen uns nieder, schauen den Störchen - und der Sonne beim Untergehen zu.

 

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